Frau Dr. Mühlstedt, Sie leben seit über 30 Jahren in Rom bzw. pendeln zwischen Italien und Deutschland.
Italien ist ein recht komplexes Land, dies stellt man bald fest, wenn man dort hinzieht.Was hat Sie dort am meisten beeindruckt und inspiriert, sich in Rom einzurichten?
Mal abgesehen von meiner beruflichen Tätigkeit (ich arbeite als freie Korrespondentin für die ARD): Die Sonne, die Kunst, das Meer und die Orangenbäume. Italien hat so viel Schönes zu bieten, dass man eigentlich gar nicht weiß, was man zuerst nennen soll. Aber wenn Sie mich speziell nach Rom fragen, dann ist es auch die römische Mentalität. Die Stadt vereint Jahrtausende alte Kulturen und Traditionen, sichtbar bis heute in herrlichen Kunstwerken. Sie hat zahllose Katastrophen überstanden und ist immer wieder neu, schön und optimistisch aus dem Chaos hervor gegangen. Und so ist es auch mit den Menschen. Der Römer versteht das Leben mit Optimismus und vor allem mit einer gesunden Portion Humor zu nehmen. Er weiß, wie vergänglich alles ist, kann aber den Alltag trotzdem unglaublich genießen – weit mehr als wir Deutsche. Das schafft er meiner Beobachtung nach, weil er sich emotional in seiner Tradition, seiner Geschichte und im Glauben verankert weiß, und diese Erfahrung sagt ihm, dass es immer wieder weiter geht. All das zu spüren, tut uns Nordländern sehr gut.
Rom gehört zu den berühmtesten und am meisten besuchten Städten der Welt: Was kann uns diese Stadt heute noch vermitteln?
Mich hat in Rom stets die Kunst besonders beeindruckt, wobei die Kirche ja Förderer und Bewahrer zahlloser Kunstwerke war und ist. Die Kunst Roms ist ohne Religion nicht denkbar. Sie beginnt bei den Etruskern und reicht über die griechisch-römische Kultur bis ins christliche Mittelalter und weit darüber hinaus. Die zahllosen Kirchen und Klöster Roms geben bis heute davon Zeugnis. Im Vatikan spiegelt sich eine fast 2000-jährige christliche Tradition. Er ist zugleich ein geistiger Orientierungspunkt, der heute erstaunlicherweise auch von vielen Nicht-Christen geschätzt und respektiert wird. All das hat Europa geprägt und sich in der Stadt Rom in vielfältiger Weise niedergeschlagen. Nahezu jeder Stein atmet hier Geschichte und steht für die Erfahrung von Jahrtausenden: Sie lehren Respekt vor dem Leben und vor dem anderen Menschen und nicht zuletzt vor jener Kraft, die hinter allem steht und in allem wirkt.
Zu Ihren jüngsten Publikationen gehört das Buch „Kraftort Rom“, das Sie mit dem in diesem Frühjahr überraschend verstorbenen Abt Notker Wolf verfasst haben, mit dem Sie lange Jahre freundschaftlich verbunden waren. Kommt darin etwas von dieser Tiefe zum Vorschein?
Ja. Wir haben uns ganz bewusst in Rom auf die Suche nach Orten gemacht, die für uns selbst so etwas wie “spirituelle Kraftorte“ sind. Oft sind es kleine Kunstwerke, abseits des Touristenrummels. Manchmal sind es Details innerhalb der großen und bedeutenden Kirchen, die vom Massentourismus völlig übersehen werden. Stets handelt es sich um Orte, an denen man verweilen, zur Ruhe kommen oder meditieren kann. Sie haben eine Geschichte und eine Ausstrahlung, die einen tieferen Blick auf Gott und die Welt ermöglicht. Zugleich ist Rom keine Stadt der Vergangenheit, sondern eine sehr lebendige Stadt, die es geschafft hat, die Schätze der Vergangenheit in die Gegenwart zu tragen, auch religiös. So ist hier etwa die Zentrale der Laiengemeinschaft Sant‘ Egidio, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstand. Ihre Mitglieder beten abends in einer der ältesten Marienkirchen der Stadt und helfen tagsüber ehrenamtlich Tausenden von Migranten und Flüchtlingen. Es ist ein gelebtes Christentum, das um seine Wurzeln weiß und aus ihnen Kraft gewinnt.
Sie haben mit Abt Notker Wolf verschiedene Bücher verfasst. In wie weit ist „Kraftort Rom“ eine Erinnerung an ihn? Welche Seiten der Stadt waren ihm besonders wichtig?
Da ist einerseits die benediktinische Tradition und andererseits die Öffnung für die Welt. Man kann in Rom eine winzige Kirche über jenem Haus besichtigen, in dem der heilige Benedikt vor rund 1500 Jahren als Student wohnte, bevor er die Stadt verließ und sich als Eremit und Mystiker in die Berge zurückzog. Heute sieht man vis-à-vis dieses Kirchleins auf dem Hügel Aventin die Benediktinerhochschule Sant‘ Anselmo. Sie ist die Zentrale einer weltweiten Ordensgemeinschaft und vermittelt jungen Benediktinern aus allen Kontinenten eine solide Ausbildung. Notker Wolf hat dort als Professor unterrichtet und später 16 Jahre als Abtprimas seine internationale Ordensgemeinschaft geleitet. Von hier aus hat er Klöster des Ordens in aller Welt betreut. Dabei wusste er stets, das Rom nicht nur „katholisch“ ist. So hat er mich mit Blick auf unser Buch stets ermutigt, die Geschichte der Lutheraner in Rom zu vertiefen, die kaum einer kennt. Sie reicht vom ersten Besuch Luthers in Rom bis zu einer ökumenischen Kultur, die in Rom heute überraschend stark und schön ist. Aber wir haben in das Buch auch interreligiös interessante Orte wie die römische Synagoge am Rand des ehemaligen Ghettos und die neue Moschee im Norden der Stadt aufgenommen. Diese spirituelle Weite ist typisch für Notker Wolf. Er hatte wie sein Vorbild, der Heilige Benedikt, stets Gottes Wirken in der ganzen Welt vor Augen. Und er war gemäß der Regel Benedikts um ein „weites Herz“ bemüht, das auf der Suche nach Verständigung und Frieden keine Grenzen kannte. Sein Leben war ein Appell, diesen Idealen zu folgen. All das und noch viel mehr spiegelt sich in unserem Buch.
Wenn genug Interesse an der Pilgerreise vorhanden sein sollte, die der Idee des Buchs ebenfalls unter dem Titel „Kraftort Rom“ folgt, werden Sie für das Bayerische Pilgerbüro im Juni die geistliche Begleitung übernehmen. Welche Akzente möchten Sie dabei setzen?
Unserem Buch entsprechend würde ich auf der Reise gerne zusammen mit Frau Dr. Jehle spirituelle und ökumenische Akzente setzen. Die Teilnehmer sollten die Kunst und Schönheit Roms erleben, aber vor allem etwas von der spirituellen Tiefe hinter den Dingen erfahren können. Ruhige, besinnliche Momente und Besichtigen abseits der ausgetretenen Touristenpfade sind uns wichtig. Wir möchten Wissen um spannende historische Hintergründe und Zusammenhänge vermitteln und zugleich Zeit für die Resonanz im eigenen Herzen schaffen. Außerdem ist 2025 ja ein Heiliges Jahr. Das heißt, wir werden in Rom durch die Heilige Pforte gehen, die Papst Franziskus jetzt an Weihnachten an der Petersbasilika öffnet. Und wir werden auch versuchen, diesen Weg ökumenisch als Pilgerweg zu Versöhnung, Frieden und Verständigung zu verstehen, der unser eigenes Herz „weitet“.
Lebenslauf
Dr. theol. Corinna Mühlstedt hat in München evangelische Theologie und Religionswissenschaften studiert, in Rom (an der Päpstlichen Universität Gregoriana) frühchristliche Kunst und Kirchengeschichte. Ihre Promotion zu christlichen Bildsymbolen in den römischen Katakomben führte sie erneut nach Rom. Sie lebt seit über 30 Jahren in Freising bei München und in ihrer zweiten Heimat Rom als Autorin erfolgreicher Bücher sowie als ARD-Journalistin für die Fachbereiche Kirche und Religion. Ihre Schwerpunktthemen sind: Weltkirche, Spiritualität und Ökumene. Internationale Recherchereisen haben sie in viel Länder geführt: in den Orient, nach Afrika und Asien. Als Vorstandsmitglied des italienischen Komitees der „Weltkonferenz der Religionen für den Frieden“ ist sie auf vielfältige Weise in der Dialog- und Friedensarbeit aktiv.